NicaNotes ist ein Blog für Menschen, die zu Nicaragua arbeiten und/oder an Nicaragua interessiert sind, veröffentlicht vom Nicaragua Network (USA), einem Projekt der Allianz für globale Gerechtigkeit. Hier werden Nachrichten und Analysen aus dem Kontext der langen Geschichte des Nicaragua-Netzwerks in Solidarität mit der Sandinistischen Revolution veröffentlicht.

Zusammengestellt von Chuck Kaufman, deutsche Übersetzung Nicaragua-Forum HD e.V.

Ausgabe vom 24.04.2018

Nicaragua reagiert mit Protest auf die Reform der Sozialversicherung

Von Chuck Kaufman

Nicaragua erlebte in der vergangenen Woche einen beispiellosen Gewaltausbruch, der durch die Ankündigung der Regierung ausgelöst wurde, dass die Sozialversicherungsbeiträge für Unternehmen und Arbeitnehmer steigen und ein höherer staatlicher Beitrag eingeplant wird, aber gleichzeitig einige Empfänger eine Kürzung der Rentenbeträge hinnehmen müssten. Die Proteste, die friedlich begannen, wurden gewalttätig und einige Polizisten wurden der unverhältnismäßigen Anwendung von Gewalt beschuldigt. Über 20 Todesfälle sind inzwischen zu beklagen, darunter ein Journalist, und die Unruhen und Plünderungen dauerten bis zum Wochenende an. Insgesamt hat sich der Protest über die ursprünglichen Forderungen zur sozialen Sicherheit hinaus ausgedehnt, richtete sich gegen verschiedene Missstände und zog opportunistischen Vandalismus und Plünderungen nach sich, die nichts mit den eigentlichen Forderungen zu tun hatten.

Am Sonntag, 22. April, versuchte Präsident Daniel Ortega bei einer Ansprache an die Nation die Hintergründe zu vermitteln und kündigte an, dass die Reform der Sozialversicherung ausgesetzt werde, um weiterer Verhandlungen mit den Unternehmern, vertreten durch deren Verband (COSEP) und den große Gewerkschaften zu führen. Es scheint, dass das dreigliedrige Modell, das bisher so gut funktioniert hat, um Arbeitsstabilität durch Konsens während der Dreierverhandlungen zwischen Regierung, Wirtschaft und Arbeit zu erreichen, dieses Mal gescheitert ist. In den seltenen Fällen, in denen kein Konsens über den Mindestlohn erzielt werden konnte, verfügte die Regierung, wie hoch der neue Lohn sein soll und sowohl die Wirtschaft als auch die Arbeiter erkannten dies an. Als COSEP dieses Mal aus den Gesprächen ausstieg, weil ihm die Regierung bei der Forderung nach Kürzung der Leistungen nicht weit genug entgegen kam und die Beiträge der Arbeitgeber einseitig erhöhte sowie 5% Rentenabzüge für einige der Rentner ankündigte [bei den hohen Renten – Anm. rk], kam es zu einem völlig unerwarteten Krampf der Gewalt. In den Tagen danach hat eine geschickte Social-Media-Kampagne und eine Ausweitung der Forderungen vor allem durch rechte Gruppen, aber auch von Gruppen, die sich als Linke sehen, die ursprüngliche Ursache der Unruhen überdeckt.

Das Nicaragua Network/Alliance for Global Justice wird in den nächsten Tagen versuchen, mit mehreren Berichten die Hintergründe der verworrenen und chaotischen Situation herauszuarbeiten. Wir setzen unsere Politik fort, nach dem Grundsatz zu handeln, dass die Nicaraguaner in der Lage sind, ihre eigenen Probleme zu lösen und ihre eigene Zukunft zu gestalten. Unsere Aufgabe als Solidaritätsbewegung ist es, das Eingreifen der US-Regierung in die inneren Angelegenheiten Nicaraguas aufzudecken und abzulehnen. Heute leiten wir nachfolgend die wichtige Analyse von tortillaconsal.com weiter, die die aktuelle Situation mit früheren Regimewechseloperationen vergleicht und die sachliche Informationen über die von der Regierung vorgeschlagenen Veränderungen bei der Sozialversicherung im Vergleich zu den Sparforderungen des COSEP/Internationalen Währungsfonds bietet.

Eine ernste Sorge für US-Aktivisten ist, dass die rechten Kräfte die Desinformation um diesen Kampf nutzen werden, um den Senat zur Verabschiedung des NICA-Gesetzes zu zwingen. (S.2265), Dieses sieht vor, dass die USA gegen multilaterale Darlehen an Nicaragua stimmen sollen, eine Maßnahme, die der Wirtschaft Nicaraguas einen schweren Schlag versetzen und das Leiden des nicaraguanischen Volkes verschärfen würde. (...)

Nicaragua - Der Nächste in der Reihe der Regimewechsel?

Tortilla con Sal, 21. April 2018

Die Ereignisse der letzten Woche in Nicaragua orientieren sich eindeutig an den von den USA und von der NATO initiierten Regimewechsel, die in Libyen, der Elfenbeinküste und der Ukraine gelangen, in Thailand, Syrien und Venezuela aber bisher gescheitert sind. Auf nationaler Ebene wurden die Proteste von der Privatwirtschaft angeführt, die ihre Profitrate gegen die sozialistische Politik zur Verbesserungen für Niedriglohn-Arbeitern und Rentenempfängern durchsetzen will.

Ereignisse

Seit dem 18. April finden in ganz Nicaragua gewalttätige Proteste statt. Die Proteste begannen einige Tage, nachdem die Regierung Reformen des Sozialversicherungssystems des Landes angekündigt hatte, das aktuell ein Defizit von rund 75 Millionen US-Dollar pro Jahr aufweist. Die Regierung kündigte die von ihr vorgeschlagenen Reformen an nachdem der nicaraguanische Unternehmerverband COSEP sich aus Gesprächen zurückgezogen hatte. Diese Reformen sollen (abhängig von nun möglichen Änderungen) am 1. Juli in Kraft treten.

Bei den Protesten am Freitag wurden 10 Menschen getötet und über 80 verletzt, darunter mehr als 30 Polizisten, die meisten Todesopfern gab es durch den tödlichen Einsatz von Schusswaffen durch rechte Provokateure. Die Berichte der westlichen Mainstream-Medien schweigen die Tatsache, dass die Proteste bei weitem nicht friedlich verlaufen sind, sondern durch tödliche Gewalt von gewalttätigen rechtsextremen Gruppen gekennzeichnet sind, die versuchen, Nicaragua zu destabilisieren, so wie sie es bisher in Venezuela getan haben. Als Antwort darauf mobilisiert Arbeiter und Studenten, die die nicaraguanische FSLN-Regierung unterstützen, ihre Anhänger gegen die gewalttätigen Provokationen der Opposition.

Die Proteste begannen in Nicaraguas Hauptstadt Managua am Mittwoch, dem 18. April, und breiteten sich rasch auf wichtige Provinzzentren wie Leon im Westen, Granada im Süden und Estelí im Norden aus. Die Proteste wurden durch aufrührerische Botschaften in den sozialen Netzwerken und gezielte Manipulationen durch rechte Medien angeheizt. Einige rechtsgerichtete Kabelfernseh-Medien beendeten ihr Programm und ließen ihr Signal anscheinend absichtlich abreißen, ohne eine klare, unabhängig nachprüfbare Erklärung.

Abgesehen von den Toten und Verletzten, die durch die gewalttätigen Proteste der Opposition verursacht wurden, wurden durch die Proteste weitreichende Schäden an der Infrastruktur verursacht, lokale Büros des Sozialversicherungsinstituts, städtische Behörden in Esteli und Granada, Universitätsgebäude in Managua und Leon, Büros der Sandinistischen Partei in Chinandega und Masaya und Regierungsbüros in Managua wurden zerstört. In Managua versuchten oppositionelle Banden auch, das brandneue Baseballstadion „Denis Martinez“, das brandneue Fernando Velez Paiz Hospital und die Zentrale des Instituts für Soziale Sicherheit zu betreten und zu zerstören. Die Banden griffen auch die meisten der sandinistischen Radiosender an und versuchten, sie in Brand zu setzen, u.a. Nuevo Radio Ya und Radio Sandino.

Eine Gruppe von über 100 protestierenden Studenten zog sich aus dem Universitätsviertel Managuas zurück und flüchtete in die katholische Kathedrale der Stadt. Die Polizei hielt sie dort fest, bis schließlich ihre friedliche Abreise ohne weitere Probleme ausgehandelt wurde. Weiter entfernt in Nueva Guinea, an der Karibikküste Nicaraguas, griff eine Oppositionsbande eine kulturelle Veranstaltung an, die zur Unterstützung der Regierung stattfand, und verletzte dabei verschiedene Regierungsanhänger, die an der Veranstaltung teilnahmen. Vielerorts hatten sich Banden von opportunistischen Straftätern mit den politischen Protesten vermischt, wobei sie auch gewerbliche Geschäftsräume und Fahrzeuge sowie nicht an den Protesten nicht beteiligte Zuschauer angriffen.

Während die privatwirtschaftliche Organisation COSEP zu friedlichen Demonstrationen zum Thema Sozialversicherungsreform aufgerufen hatte, haben die rechtsextremen politischen Organisationen Citizens for Liberty und Sandinista Renewal Movement die gewalttätigen Proteste angeführt. Sie haben die sozialen Netzwerke, die falsche Informationen und aufrührerische Anschuldigungen verbreiten, wirksam genutzt, um Menschen, insbesondere junge Menschen, die wenig oder gar nichts über die Reformen der sozialen Sicherheit wissen, zu verwirren und in die Irre zu führen. Die Reform der Sozialversicherung diente als bloßer Vorwand, um gewalttätige Proteste zur Destabilisierung einer Regierung zu initiieren, die eine hohe Wählerunterstützung genießt.

Sowohl die evangelischen religiösen Autoritäten als auch die katholische Kirchenhierarchie haben zur Ruhe und zum Dialog aufgerufen. COSEP hat darauf bestanden, dass die Menschen friedlich protestieren und dazu aufgerufen, die Gespräche mit der Regierung über die Reform der sozialen Sicherheit wieder aufzunehmen. Armee und Polizei unterstützen die Regierung voll und ganz, und die Polizei hat angesichts der tödlichen Provokation mit Zurückhaltung gehandelt. Gewerkschaften und die wichtigste Studentenorganisation des Landes haben die Gewalt verurteilt und ihre Unterstützung für die von der Regierung vorgeschlagene Reform der sozialen Sicherheit zum Ausdruck gebracht. Die Union der älteren Menschen, die sich für bessere Rentenansprüche und Gesundheitsleistungen für ältere Menschen einsetzt, unterstützt ihrerseits auch die von der Regierung vorgeschlagenen Reformen der sozialen Sicherheit, die einen Abzug von 5 % von den Renten für ältere Menschen im Austausch für volle Rechte auf die gleiche Gesundheitsversorgung wie für die aktive Arbeiter vorsieht.

Kontext - Nicaraguas Sozialversicherungssystem

Nachdem die rechten Parteien Nicaraguas die nationalen Wahlen 1990 gewonnen hatten, haben die drei nachfolgenden rechten Regierungen das Sozialversicherungsinstitut (INSS) des Landes schlecht verwaltet, indem sie die Deckungsbeträge und die Leistungen gekürzt haben. Im gleichen Zeitraum wurden Millionen von INSS-Mitteln zur Finanzierung von Unternehmen des privaten Sektors und für illegale Zahlungen an Einzelpersonen missbraucht. Als im Januar 2007 eine neue sandinistische Regierung unter Präsident Daniel Ortega ihr Amt übernahm, hatte der Sozialversicherungsfonds ein unhaltbares Defizit und eine stark reduzierte Beitragsgrundlage. Seitdem hat das INSS sowohl die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Personen erhöht als auch die Leistungen des Systems erweitert. Dazu gehören Hämodialyse, onkologische Therapien, Wirbelsäulenchirurgie, Augenheilkunde, Neurochirurgie, Hüft- und Kniegelenkersatz, Nierentransplantationen und andere sehr teure Spezialverfahren.

Obwohl die Zahl der Beitragszahler stark gestiegen ist, weist das INSS nach wie vor ein Defizit von rund 75 Millionen US-Dollar auf. Der Streit zwischen der Regierung und der Privatwirtschaft ist die Frage, wie dieses Defizit zu finanzieren ist. Die Privatwirtschaft will mit dem folgenden neoliberalen Plan die Kosten senken:

  1. Anhebung des Rentenalters von 60 auf 65 Jahre
  2. Abschaffung der kleinen Rente für Rentner, die nicht in der Lage waren, die 750 wöchentlichen Beiträge zu leisten, die für den Erhalt einer vollen Rente erforderlich sind.
  3. Abschaffung der Mindestrente, die sicherstellt, dass niemand eine Rente erhält, die unter dem Mindestlohn für Industriearbeiter liegt.
  4. Wegfall des jährlichen Weihnachtsgeldes in Höhe einer Monatsrente
  5. den jährlichen Ausgleich des Wertes der Rentenzahlung, wenn die Landeswährung von der Zentralbank jährliche gleitend um abgewertet wird
  6. Verdoppelung der für eine Rentenzahlung notwendigen wöchentlichen Beiträge von 750 auf 1500, um einen Anspruch auf eine Rente zu erlangen,
  7. Privatisierung der medizinischen Kliniken des INSS.

Die Regierung will das Gesundheitssystem der sozialen Sicherheit schützen und die soziale Absicherung und die Leistungen als kollektives öffentliches Gut erhöhen:

  1. schrittweise Erhöhung des Arbeitgeberbeitrags um 3,25%.
  2. Erhöhung des Arbeitnehmerbeitrags um 0,75%.
  3. Erhöhung des staatlichen Beitrags für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors um 1,25%.
  4. Aufhebung der Gehaltsobergrenze, so dass Personen, die hohe Gehälter beziehen, auch höhere Sozialversicherungsbeiträge entrichten müssen
  5. Reduzierung der Renten um 5 %, damit die Rentner die gleichen Leistungen im Gesundheitswesen erhalten können wie aktive Arbeitnehmer (was sie derzeit nicht erhalten).
  6. Beibehaltung der Anzahl der 750 wöchentlichen Beiträge für den Anspruch auf eine volle Rente
  7. Erhalt der kleinen Renten und der Mindestrenten
  8. Beibehaltung des Weihnachtsgeldes für Rentner
  9. Aufrechterhaltung des Rentenwertes bei der jährlichen Währungs-Abwertung von 5%.
  10. Erhalt aller INSS-Kliniken im öffentlichen System

Aktuelle Entwicklungen[Stand 21. Apr.]

Präsident Daniel Ortega hat bestätigt, dass die Regierung die Gespräche mit COSEP, der Organisation der nicaraguanischen Privatwirtschaft, sowie den anderen Organisationen, die an den Gesprächen über die Verteidigung der Nachhaltigkeit des INSS teilnehmen, fortsetzen wird. In verschiedenen Teilen Nicaraguas gibt es weiterhin Unruhen, und es werden mehr Tote und Verletzte gemeldet. Kirchenvertreter, Wirtschaftsführer und Politiker fordern ein Ende der gewalttätigen Proteste. Für die rechten politischen Gruppen, die die Gewalt provozieren, ist die INSS-Reform nur der opportunistische Vorwand, aber es ist unklar, dass sie eine längerfristige Destabilisierung anstreben.

Das Muster ist bisher sehr ähnlich wie in Libyen, der Elfenbeinküste, Syrien, der Ukraine, Thailand und Venezuela. In all diesen Ländern haben sich rechtsextreme politische Minderheiten mit ausländischen Eliten, vor allem aus den Vereinigten Staaten und Europa, zusammengeschlossen, um den nationalen Status quo zu beenden und die Macht zu übernehmen. In Nicaragua hat diese kleine rechte Minderheit des Landes und die politische Opposition gegen die FSLN offen um finanzielle und politische Unterstützung in den Vereinigten Staaten und Europa gebeten, um die FSLN-Regierung Nicaraguas zu untergraben und zu destabilisieren. Das offensichtliche Modell, nach dem sie arbeiten, ist Venezuela. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob für Nicaragua die Gefahr einer weiteren US-Intervention mit allen Konsequenzen für die Bevölkerung und für die Region steigen wird.


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